Übergänge zu einer modernen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik

Karte statt Kohle - Die Reform der Reform

Das Bundesverfassungsgericht (BVG) hat der Bundesregierung die Reform von Hartz IV bis zum 1.1.2011 auferlegt. Allerdings hat das BVG die Höhe des Regelsatzes nicht nur nicht beanstandet, sondern sogar bestätigt. Lediglich die Methode, wie die 359 Euro zustande kommen, erschien den Richtern korrekturbedürftig. Wenigstens hatten die Verfassungshüter mit den 1,7 Millionen Kindern in Hartz-IV-Familien ein Einsehen, in deren Bezüge Ausgaben für Bildung und das gesellschaftliche Leben ausgeklammert seien. Seit Sommer 2010 wird über Transparenz und Höhe der Regelsätze, Sachleistungen, neuerliche Kürzungen, Bildungsgutscheine diskutiert. Der Proteststurm ist breit. Die neuerliche Hartz-IV-Reform wirft mehr Fragen auf, als sie Antworten bringt. Das fängt bei der Berechnung des Regelsatzes an und setzt sich in fragwürdigen Details fort. Die Bezugsgruppe umfasst nicht mehr wie früher das untere Fünftel, sondern nur die unteren 15 Prozent der Arbeitnehmereinkommen. Verdeckt Arme, also Leute, die keine Sozialleistungen beantragen, werden bei der Referenzgruppe mit gerechnet. Der neue Regelsatz ist folglich realitätsfern, viel zu niedrig und nicht existenzsichernd.

Aus der Grundsicherung wird Sozialhilfe - die Rolle rückwärts

Angesichts offensichtlicher Erfolglosigkeit der Arbeitsmarkt- und Sozialreform werden derzeit drei Hartz-IV-Alternativen diskutiert.

Erstens liegt mit dem Sondergutachten des Sachverständigenrates eine noch schärfere Variante von Hartz IV vor: Kürzung des Alg-II-Regelsatzes und eine weitere Verschlechterung der Hinzuverdienstmöglichkeiten. Durch kommunale Arbeitsdienste sollen 700.000 Zusatzjobs geschaffen werden.

Zweitens Bürgerarbeit: Der Deutsche Gewerkschaftsbund setzt sich für einen „ehrlichen zweiten Arbeitsmarkt“ ein. Er soll Jobs für 200.000 Langzeitarbeitslose als ABM-Stellen bringen. Doch geschwächte Gewerkschaften erzwingen keine Gute Arbeit, kein wirksames Konjunkturpaket, keinen anständigen Mindestlohn. Die neuen Förderinstrumente haben nur sehr wenig Jobs schaffen können, obwohl Arbeitgebern bis 75 % der Lohnkosten erstattet werden. Erschreckend wenige Förderfälle münden in einen regulären Job. Unter diesem Aspekt bringt flächendeckende Zwangsregrutierung nur eines - mehr Bürokratie . Dann wäre es ökonomischer ist es, das Geld gleich an die Erwerbslosen zu verteilen. Aber das zerstörte die Arbeitsmoral, heißt es. "Hauptsache Arbeit" - so die Losung der Agenda 2010. Neuere Studien zeigen, dass Ein-Euro-Jobs reguläre Arbeitsplätze vernichten und nicht - wie versprochen - in feste Arbeit münden.

Drittens Existenzsicherung: Die Krise der Arbeitsgesellschaft lässt sich offensichtlich nicht durch Lohnarbeit allein lösen. Es geht um Existenzsicherung, welche gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. Am Grundeinkommen ist gut, dass es kein rechtes oder linkes Projekt darstellt. Das Spektrum der Befürworter ist breit gefächert und reicht von der Linkspartei bis zu Wirtschaftsliberalen. Die Vorteile des garantierten Mindesteinkommens gegenüber der Grundsicherung liegen auf der Hand: Es kommt mehr unten an, weil weniger Bürokratie nötig ist.

Mehr soziale Freiheit wagen!

Vertreter der Agenda 2010 bedauern Fehlentwicklungen. Es geht immerhin um 6,7 Mio. Menschen im Hartz-IV-System. Es reicht nicht, Giftzähne des Hartz-Systems auf gerichtliche Veranlassung zu ziehen, oder die Regelsätze minimal anzuheben, aber die Bürokratie massiv auszuweiten. Ein kundenorientiertes Jobcenter ist utopischer als ein adäquates Grund- bzw. Mindesteinkommen. Ein modernes Sozialsystem muss belohnen und statt zu strafen. Deshalb soll es ein Mindesteinkommen individuell, existenzsichernd, ohne Bedürftigkeitstest und ohne Arbeitszwang geben. Die vom Bundesverfassungsgericht am 9. Februar 2010 geforderte Transparenz darf nicht durch immer neue Winkelzüge hintergangen werden.

Vier-Punkte-Plan

zur Weiterentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Hartz IV) zu einem garantierten Grund- bzw. Mindesteinkommen. Der erste Schritt ist die Anhebung der Alg-II-Regelsätze. Die Wohlfahrtsverbände fordern mindestens 415 €. Verstärkte Kaufkraft verbessert die Binnenkonjunktur. Gleichzeitig ergeben sich Perspektiven, Erwerbstätigkeit und nicht marktvermittelter Tätigkeiten (etwa Familien- bzw. Eigen- und Gemeinwesenarbeit) anzunähern.

 

Im zweiten Schritt sind Arbeitsanreize für Hartz-IV-Aufstocker zu stärken. Ein solches System heißt negative Einkommensteuer, welches ihren Schrecken verlieren kann, wenn es existenzsichernd ist und als Einstieg für ein bedingungsloses Grundeinkommen verstanden wird. Außerdem sind investierte Vermögenseinkommen steuerfrei zu machen und anders verwendete Vermögenseinkommen massiv zu besteuern.

 

Als drittes Element wird die Regelung für so genannte zumutbare Arbeit abgeschafft, die weder das Land, noch die Menschen voran bringt. Chancengerechtigkeit gibt es nur, wenn sich Menschen frei für eine Arbeit entscheiden können. Entwicklungschancen für Kinder gibt es nur, wo die Eltern nicht von der Last erdrückt werden, sondern genug zum Leben haben.

 

Armutsfestigkeit ist im vierten Schritt zu erreichen. Entlastungseffekte werden durch Umschichtungen, weniger Kontrollbürokratie und Selbstfinanzierungseffekte sowie zusätzliche Beschäftigung erreicht. Durchgerechnet wurden diese Pläne bereits. Der politische Mut ist entwicklungsfähig.

 

Immer mehr Menschen wollen ein anderes Sozialsystem

Die Forderung für ein garantiertes Mindesteinkommen reicht in Deutschland bis in die 1960er Jahre zurück. Hartz IV war nur eine Zwischenstation auf dem Weg zu einem modernen Sozialsystem ohne Druck und Strafe. Mein Vorschlag ist, Hartz IV schrittweise zum garantierten Mindesteinkommen umzubauen und das bestehende Sozialsystem zu ergänzen - Hartz plus. Die Idee: Durch weniger Bürokratie und freiwillige Anreize kommt mehr "unten" bei den Menschen an. Statt workfare und Arbeitszwang ermöglicht ein garantiertes Mindesteinkommen freiwilliges Engagement und stärkt die Verhandlungsposition der Schlechtverdiener. Die Menschen können sich leichter für die Gesellschaft engagieren, ehrenamtlich wirken oder auch working poor-Jobs ablehnen. Arbeit lohnt sich durch monetäre Anreize - so bricht die Wirtschaft nicht zusammen, wenn die Arbeitswelt menschlicher wird und die Angst um den Arbeitsplatz nachlässt. Im Gegenteil - überall dort, wo Menschen gerne etwas leisten, nimmt die Produktivität zu.

 

Misslungen ist es, mit harter Hand gegen Arbeitslose den harten Kern der Erwerbslosigkeit zu knacken. Der Dschungel aus Kombilohn und Bedarfsprüfung wird nicht lichter, sondern dichter. So liest sich keine Erfolgsgeschichte. EU-weite soziale Initiativen tragen dazu bei, die Idee der bedarfsunabhängigen Existenzsicherung massenwirksam und damit politikrelevant zu verbreiten.